Was ergibt die Kombination aus einem Buchstaben und einer Ziffer? Wenn es sich um das Kürzel H0 handelt, führt es zu schwärmenden Blicken, vorzugsweise beim männlichen Geschlecht. H0 ist sozusagen die Blutgruppe der meisten Modelleisenbahner. Märklin, die bekannteste Modellbahnmarke der Welt, hatte im Jahr 1950 die wenig optimale Bezeichnung 00 für die klassische Spurweite im Maßstab 1:87 in Halb-Null (H0) geändert. Viele Jahrzehnte lang war die Modelleisenbahn Garantin für gute Umsätze und steigende Verkaufszahlen. Doch ausgerechnet zum 150-jährigen Unternehmensjubiläum vor zwei Jahren gab es in Göppingen statt Champagnerlaune nur lange Gesichter. Das Traditionsunternehmen, das 2005 die britische Investmentgesellschaft Kingsbridge Capital übernommen hatte, stand kurz vor dem Konkurs.
Eisenbahnfans aus aller Welt bekamen das Heulen und Zähneklappern und Beobachter der Szenerie staunten, wie ein im Prinzip gesundes Unternehmen und eine exzellente Marke beinahe an die Wand gefahren worden wäre. Knapp drei Jahre danach stehen, dank eines gut organisierten Insolvenzverfahrens und einer finanziellen Konsolidierungsphase, die Weichen wieder auf Erfolg. Das alte Schlachtross Märklin ist wie Phönix aus der Asche wiederauferstanden. Im Geschäftsjahr 2010 erwirtschaftete das Traditionsunternehmen trotz gesunkenen Umsatzes von 111,2 Mio. Euro (2009) auf 105,7 Mio. Euro einen Gewinn vor Steuern und Zinsen in Höhe von 10,1 Millionen Euro.
Modellbahnwelt steht wieder unter Dampf
Die Gebr. Märklin & Cie. GmbH arbeitet seit knapp einem Jahr wieder eigenfinanziert. Damit steht das Unternehmen wirtschaftlich auf sehr soliden und gesunden Füßen. „Wir haben gezeigt, was in uns steckt,“ sagt Geschäftsführer Stefan Löbich, zuvor bei der Würth AG tätig, der seit 2011 für Märklin verantwortlich ist. Derzeit sind dort 939 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beschäftigt, davon 465 im Stammwerk Göppingen. Durch den Neubau im ungarischen Györ schaffte der Branchenführer mehr als 50 neue Arbeitsplätze. Geschäftsführer Stefan Löbich geht davon aus, dass auch in Göppingen die Zahl der Mitarbeiter zulegen wird. Vor allem im Vertrieb bestehe dafür Bedarf.
Früher wurde vor allem zu Weihnachten die Modelleisenbahn ausgepackt, Gleise wurden angelegt, Berge zusammengepappt, Plastikwiesen begrünt, Brücken konstruiert, Häuschen gebaut und Szenerien arrangiert, damit sich die neuerworbenen Stücke auch ja wie zu Hause fühlten. Hier drehten die „roten Heuler“, knatternde Triebwagen, ihre Runden. Dort fuhr die schicke, dunkelrot lackierte „Lollo“ (BR 216) spazieren, die ihren Spitznamen einem wohlgerundeten Vorbau unterhalb der Stirnfenster verdankte – die italienische Filmschauspielerin Gina Lollobrigida lässt grüßen. Und nicht zu vergessen das legendäre Krokodil, die schwere, grüne und an zwei Stellen bewegliche Lokomotive der Schweizerischen Staatsbahnen, die für den schweren Güterzugeinsatz, insbesondere auf der steilen Gotthardbahn entwickelt wurde. So hätte es in der Miniaturwelt ewig weitergehen können.
Zwei verschiedene Zielgruppen im Fokus
Heute teilt sich der Markt in zwei Lager, die Spielbahner, für die eine Modelleisenbahn ein hochwertiges Spielzeug ist, und die „Nietenzähler“, die das Vorbild so exakt wie möglich nachbilden wollen. Beide Gruppen müssen bedient werden. Der Nachwuchs darf ebenfalls nicht vernachlässigt werden, sonst gäbe es irgendwann wohl nur noch Auktionen, bei denen Waggons für 5.000 Euro gehandelt werden und einzelnen Sammlern seltene Lokomotiven wie das Krokodil der Spur 0 oder die E 800 der London Midland and Scottish Railway bis zu 70.000 Euro wert sind. Die ersten Miniaturlokomotiven waren gar nicht als Spielzeug gedacht. Sie entstanden in England und dienten als Werbemodelle für die Originale. Goethe bekam 1829 das Modell der Rocket geschenkt. Es ist im Goethe-Nationalmuseum ausgestellt. Prinz Napoléon Eugène Louis Bonaparte war nachweislich das erste Kind, das eine Modelleisenbahn besaß. Das war im Jahr 1859.
Neue Kindereisenbahn und zusätzliche Vertriebswege
Kinder sind heute unterrepräsentiert. Ihr Anteil an der Märklin-Kundschaft liegt bei nur 15 Prozent. „Wir sind in eine strategische Falle getappt“, erklärt Geschäftsführer Löbich. Bislang bildete die halbe Null den üblichen Einstieg in die riesige Zwergenwelt der Eisenbahn und war nichts für tolpatschige Kinderhände. Jetzt soll die Marke „My World“ schon jüngeren Nachwuchs auf die richtige Spur führen, hofft Stefan Löbich. Die Rechnung scheint bereits aufzugehen. Im Oktober kürte der Bundesverband Spielwaren-Einzelhandel die „Volkseisenbahn“ zu den TOP 10 der Spielzeug-Neuheiten 2011. „Diese wertvolle Auszeichnung zeigt, dass wir mit „Märklin My World den Zeitgeist getroffen haben. Wir haben bewusst im Bereich Kinderspielzeug ein weiteres Standbein neben der traditionellen Modellbahn aufgebaut“, kommentiert Löbich die Auszeichnung des Kinder-ICE.
Märklin hat bislang mehr als 20.000 Startpackungen ausgeliefert und musste bereits nachproduzieren. Die Startpackung „ICE“ spricht gezielt Kinder ab drei Jahren an. Der batteriebetriebene Zug aus robusten Bauteilen, die wenig krumm nehmen, wartet zusätzlich mit Licht und Geräuschen auf. Der Einstieg in die nächste Generation ist auf diese Weise geradezu vorprogrammiert, da sich die trittfesten Gleise mit dem Standard-Schienenmaterial von Märklin jederzeit weiter ausbauen lassen.
Dementsprechend sollen sich auch die Vertriebswege von Märklin verändern. „Wir wollen künftig zweigleisig fahren. Bisher lief das Geschäft vor allem über zahlreiche kleine Fachhändler, die überwiegend die Sammler mit Gleisen und neuen Modellen versorgten.“ Diesen Schwerpunkt will Löbich erhalten, da die Märklin-Produkte erklärungsbedürftig sind. „Zusätzlich wollen wir künftig auch dort präsent sein, wo es Spielwaren gibt“, betont der Geschäftsführer.
Potenzielle Kunden gestern und heute
Generell ist Stefan Löbich von sehr guten Wachstumschancen überzeugt. „Wenn wir expandieren, denke ich in erster Linie an die Auslandsmärkte. Vor allem in vielen europäischen Ländern ist Märklin noch gar nicht oder nur sehr zurückhaltend tätig.“ Deshalb will der Geschäftsführer den Vertrieb personell stärken und strukturell den Zeichen der Zeit anpassen: „Jeder, der noch keine Modelleisenbahn besitzt, ist für Märklin ein potenzieller Kunde.“
Als der Flaschnermeister Theodor Friedrich Wilhelm Märklin sein Unternehmen 1859 in Göppingen gründete, hatte er mit Eisenbahnen nichts am Hut. Er stellte Puppenküchen und Blechspielzeug her. Nach dem frühen Tod ihres Mannes hielt Caroline Märklin die Firma über Wasser, indem sie als vermutlich erste handelsreisende Frau im Südwesten mit dem kleinen Sortiment über Land fuhr. Ihre Söhne Eugen und Karl Märklin übernahmen das Unternehmen ab 1888 als Gebr. Märklin. Der Aufkauf des Blechspielzeugherstellers Ludwig Lutz in Ellwangen und die Übernahme von dessen Lokmodellen im Jahr 1891 beschleunigten die Expansion.
Im selben Jahr präsentierten die Brüder auf der Leipziger Frühjahrsmesse erstmals eine Spielzeugeisenbahn. Damit legten sie den Grundstein zum Welterfolg von Märklin. Dem Göppinger Unternehmen ist es zu verdanken, dass in dieser Zeit auch die Spurweiten vereinheitlicht wurden, die in ihren Grundzügen noch weltweit gelten.
Auf den Spuren des Mythos Märklin
1909 umfasste die Produktpalette bereits 90 verschiedene Dampfmaschinenmodelle. Die lange Zeit kleinste Eisenbahn der Welt, die Mini-Club, wurde 1972 vorgestellt. 1984 begann das digitale Zeitalter bei Märklin. 1997 kaufte Märklin den Mitbewerber Trix aus Nürnberg. Zehn Jahre später wurde die Ernst Paul Lehmann Patentwerk OHG, Hersteller der Lehmann-Groß-Bahn, übernommen. „Beide Marken sollen künftig noch stärker fokussiert werden“, so Löbich.
Auf den Spuren des Mythos wandeln die Besucher, die in den Räumen des Museums einen Rundgang durch die Geschichte des Unternehmens und seiner weltweit begehrten Produkte erleben können. Um dem Interesse der jährlich rund 200.000 Besucher besser gerecht zu werden, wurde das Museum ständig erweitert. Das Werksmuseum hat bei Märklin eine lange Tradition. Bereits um 1900 gab es ein „Musterzimmer“, in dem die Erzeugnisse des Hauses besichtigt werden konnten. Aus dieser Einrichtung heraus entstand in den Jahren 1958 und 1959 ein Ausstellungsraum, in dem nicht nur sämtliche jeweils aktuellen Produkte, sondern auch Raritäten der vergangenen Jahre gezeigt wurden.
Seit 2006 zieht die Märklin Erlebniswelt Eisenbahnfans aus aller Welt an. Auf 1.000 Quadratmetern begeistert eine begehbare Miniaturwelt. Märklin will sich künftig verstärkt als Zentrum der Modelleisenbahnwelt positionieren. Neben Web-Radio, Märklin TV, Märklin-Magazin und dem Clubbereich 1. FC-Märklin, fand in diesem Jahr erstmals in Göppingen die internationale Modellbahnausstellung statt, zu der über 60.000 Besucher strömten.